Ich habe den Begriff der "Schläfenlappenpersönlichkeit" gesucht und bin dabei auf zwei Artikel gestoßen, die ich ganz faszinierend finde. Ich hoffe, ihr könnt euch dazu überwinden, sie zu lesen. Den ersten kopiere ich hier rein (in zwei Teilen, ist ein bißchen zu lang), denn ich habe sein Original nicht aufgetrieben, und ich hasse Links zu dubiosen Seiten, die plötzlich nicht mehr funktionieren:
Religion im Gehirn?
Neue Erklärungsansätze zum Glauben aus dem Bereich der Hirnforschung, sowie biologische und anthropologische Glaubensthesen. Ein paar Elektroden, einen Monitor, ein Strimmessgerät: Mehr benötigte Ramachandran nicht, um Gott auf die Schliche zu kommen. Den Weg wies ihm einer seiner Patienten, dessen Name er mit Paul angibt.
Paul war 32 Jahre alt, als er erstmals in Ramachandrans Labor an der University of California in San Diego auftauchte, und er hatte sein Leben Gott verschrieben. Er arbeitete als stellvertretender Leiter eines Heilsarmeebüros, sein auffälligstes Merkmal war das wuchtige Kreuz, das an einer Goldkette an seinem Hals hing.
Ohne jeden Anflug von Unsicherheit schritt er in Ramachandrans Büro und begann von seinen Erleuchtungen zu reden. Bald dämmerte es dem Neurologen, warum ihm Pauls Verhalten so vertraut vorkam: Selbstbewusst war dieser befremdliche Patient, arrogant und überheblich, für Humor fehlte ihm jeder Sinn, sein Interesse galt fast ausschließlich der Religion - genau so wird in den Neurologie-Lehrbüchern eine "Schläfenlappenpersönlichkeit" beschrieben. Tatsächlich stellte Ramachandran fest, dass Pauls Hirn genau hinter der Schläfe regelmäßig von elektrischen Stürmen heimgesucht wurde - Anfällen, die der Patient jedoch als Momente großer Erleuchtung erlebte. "Das erste Mal passierte es, da war ich acht" erzählte ihm Paul. Schon damals habe ihn ein helles Licht in seinen Bann gezogen. Wenige Jahre später folgten weitere epileptische Anfälle, die Pauls Leben grundlegend veränderten. "Alles lag kristallklar vor mir", berichtete er voller Eifer. "Es gab nicht den geringsten Zweifel". Verzückung, reine Anschauung des Göttlichen, nur Einssein mit dem Schöpfer - vergebens versuchte er, sein beglückendes Gefühl in Worte zu fassen: "Das können sie nicht verstehen", erklärte er schließlich "genauso gut könnte ich versuchen, einem Kind die Wonnen des Sex zu erklären".
Nun sind von religiösen Visionen Besessene keine Seltenheit. Manch einer erzählt von "göttlichem Licht", von "letzten Wahrheiten", von plötzlichen "Einblicken ins wahre Wesen des Kosmos". Ramachandran hätte Pauls großspurige Reden also als bloße Vernarrtheit abtun und ihm schlicht Antiepileptika verschreiben können.
Doch die Forscher-Neugier des Arztes war geweckt: Konnte ihm Paul helfen zu verstehen, was Menschen ans Übersinnliche glauben lässt? Warum, so fragte er sich, reagieren gerade Schläfenlappenepileptiker so stark auf religiöse Reize? Und warum betreffen ihre Visionen stets das Übersinnliche? Warum sehen sie nicht Schweine oder Esel?
Zwei Ursachen von Pauls Verzückung schienen Ramachandran denkbar: Entweder die Anfälle erzeugten einen allgemeinen Erregungszustand, den Paul als so überwältigend empfand, dass er ihn mystisch deutete. Oder aber die epileptischen Anfälle flackerten auf in einer Art "Gott-Modul" einem eigens für das Wahrnehmen des Übersinnlichen verdrahteten Nervenschaltkreis. Um zu testen, welche dieser Erklärungen richtig sei, begann Ramachandran seine Strommessungen: Er zeigte seinen Patienten Bilder, die bei den meisten Menschen emotionale Reaktionen auslösen - Bilder von zerfleischten Menschen oder Pin-up-Fotos hübscher Menschen. Doch die Leitfähigkeit von Pauls Haut - untrüglicher Indikator für emotionale Erregung - änderte sich wenig: Ganz offensichtlich war dieser Pastient nicht durch alles leicht in Erregung zu versetzen. Erst als der Arzt ihm Bilder des Gekreuzigten und andere religiöse Bilder zeigte, schlug das Messgerät plötzlich heftig aus. Zeigte sich hier die Wirkung des Gott-Moduls, das Ramachandran in den Schläfenlappen vermutet? "Haben wir jetzt eine Hotline zum Himmel?", grübelte er. Womöglich werde man irgendwann sogar auf Gene stoßen, denen die Evolution eigens die Funktion gegeben hat, Gott sehen zu können. Ramachandran weiß wohl, dass er sich mit solchen Spekulationen in der Fachwelt Feinde macht. Gott gilt den meisten als nicht sinnvolles Studienobjekt, selbst dann nicht, wenn es darum geht, ihn in Gestalt neuronaler Strukturen aufzuspüren. Doch Ramachandran kann enormes Renommee in die Wagschale werfen. "Newsweek" kürte ihn zu einem von 100 Leuten, "die im 21.Jahrhundert eine herausragende Rolle spielen werden."
"Bastelei" nennt er seine Forschungsstrategie, bei der meist mit simplen Mitteln seinen Patienten Geheimnisse zu entreißen versucht, die sich unter ihrer Schädeldecke verbergen. Er scheut dabei auch vor kühnen Theorien nicht zurück: Mutig spekuliert er über die Entstehung der Sprache, den Beginn der Kultur, das Wesen der Kunst - und das Rätsel der Religion.
Die Frage, warum der Mensch so anfällig für den Glauben an das Übersinnliche ist, hat schon viele Denker grübeln lassen. Wer wie um 1825 der französischen Philosophen Auguste Comte, gehofft hatte, dereinst werde die Vernunft allen religiösen Aberglauben besiegen, wurde eines Besseren belehrt. Triumphal setzte sich seither die Technik durch; der Glaube aber blieb. In fast allen Ländern der Welt blieben die erklärten Atheisten in der Minderzahl. In den USA bekennen sich in Umfragen sogar 90% zum Glauben an irgendeine Form höheren Wesens. Rund ein Drittel behauptet, Erlebnisse plötzlicher religiöser Erleuchtung oder Erweckung gehabt zu haben. Selbst in den Universitäten, den Horten wissenschaftlicher Vernunft, grassiert die Irrationalität: In Umfragen erklärten fast 40%, an einen Gott, der Gebete erhört, zu glauben; ebenso viele freuten sich auf ein ewiges Leben.
Selbst wo den Kirchen, wie in Deutschland, die Mitglieder weglaufen, bedeutet dies mitnichten eine Absage an alles Übersinnliche. Im Gegenteil: Immer neue Wogen esoterischer Heilsversprechen suchen das Land heim. Mal finden sich Rebirthing und Channeling Anhänger, dann wieder ist fernöstliche Meditation in. Um die Jahrtausendwende entdeckten die Deutschen plötzlich ihre Liebe zu Engeln. Gegenwärtig, so klagen die Sektenbeauftragten, haben Druiden und Hexen Konjunktur.
Bis heute unerklärt bleibt die Frage: Warum? Warum lässt sich der Abteilungsleiter Feierabend die Zukunft lesen, warum geht die Frauenbeauftragte zum Schwarzmondritual? Warum glaubt jeder dritte Deutsche an die Wideraufstehung, warum gar jeder zweite an Schutzengel? Es sei eben die Lieblingsbeschäftigung der Menschheit, so schrieb schon vor fast hundert Jahren der US-amerikanische Essayist Mencken, leidenschaftlich an das offenkundig Unwahre zu glauben. Logik, so stöhnt auch der Harvard-Biologe Wilson, fruchte angesichts religiöser Argumente eben nicht: "Sie gleicht einem stahlummantelten Geschoss, mit dem man auf Nebel schießt." Die Bereischaft zu religiösem Glauben sei wohl ein "unaustilgbarer Bestandteil der menschlichen Natur". Noch ist allerdings noch nicht einmal klar, wie "Religion" überhaupt zu definieren ist: Lässt wirklich der gleiche Trieb den Buddhisten meditieren und den Derwisch ekstatisch tanzen? Wie viel Glauben hat der Hopi-Indianer mit dem der Juden gemein? Sind Marienverehrung und der Heilige Krieg und Esoterikboom wirklich Ausdruck ein und desselben biologischen Phänomens?
Ramachandran hält das durchaus für möglich - und mit dieser Auffassung ist er nicht allein. Mit ihm hat sich ein kleine Gruppe von Forschern darangemacht, der eigenartigen Spiritualitäts-Sehnsucht des Menschen dort nachzuspüren, wo sie verborgen liegen müsse: in den knapp anderthalb Kilogramm grau-weißen Gewebes unter der Schädeldecke. Diese Einsicht ist an sich nicht neu: Schin William James, der bis heute von vielen verehrten Pionier der Religionspsychologie, nahm bereits wie selbstverständlich an, dass das Geheimnis der Religion im Hirn zu suchen sei. Dennoch mieden die Hirnforscher das Thema. Allzu unverrückbar schien ihnen vorgegeben, dass Wissenschaft und Religion zwei unvereinbare Welten sind. So feierten die Hirnforscher zwar Triumph um Triumph: Sie klärten auf, wie das Großhirn Bilder und Töne verarbeitet, sie spürten die Überlebenszentren im Stammhirn auf. Ja, selbst vor dem Rätsel, wie das Gefühl von Glück, Angst oder Scham entsteht, schreckten sie nicht zurück. Nur die Religion schien ihnen keiner Forschung wert. Das beginnt sich erst in den letzten Jahren zu ändern. Noch allerdings steht die neu ausgerufene Disziplin der Neurotheologie am Anfang. Zurückgreifen können die Forscher nur auf wenige Experimente, die nachweisen, dass sich menschlichen Körper etwas verändert, wenn er betet oder meditiert: Die Atmungsrate sinkt erheblich, der Sauerstoffverbrauch geht um 20 bis 30 Prozent zurück. Der Hautwiderstand nimmt deutlich zu, ein Zeichen für Entspannung. Gleichzeitig wird das Blut saurer. Auch im Gehirn sind Veränderungen nachweisbar: Etwa 50 Sekunden, nachdem eine Meditation begonnen hat, erscheinen sogenannte Alpha-Wellen im Elektroenzephalogramm - was sonst bei geöffneten Augen sehr ungewöhnlich ist. In einigen Fällen lassen sich, trotz offener Augen, Theta-Wellen messen, normalerweise ein Indiz dafür, dass der Proband schläft und Traumbilder ihn umgaukeln. Das allerdings beweist nicht mehr, als das sich der tranceartige Zustand des Meditierenden auch in der Aktivität der Nerven niederschlägt. Doch was bedeutet das? Was genau ist es, das den Geist glauben lässt, er entschwebt in andere Sphären? Einer, der diesen Fragen nachgeht ist der Radiologe Newberg an der University Pennsylvania. Er forderte Buddhisten zum Meditieren auf. Ehe jedoch ihr Geist mit dem Kosmos verschmolz, zogen sie noch rasch an einer Strippe. Damit öffnete sich ein Ventil, durch das eine schwach radioaktive Substanz in ihre Venen tröpfeln konnte. Mit Hilfe einer Technik namens SPECT konnte Newberg dann messen, an welchen Stellen im Hirn die Nervenzellen so aktiv arbeiten, dass sich dieser Stoff anreichert. Tatsächlich erkannte der Forscher schon bald ein charakteristisches Muster auf dem Tomogramm - und mehr noch: Es glich in verblüffender Weise jenem, das sich unter ähnlichen Umständen bei betenden Franziskanernonnen gezeigt hatte. Wie im Normalzustand, so zeichnete sich auch bei Newbergs Probanden auf dem Bildschirm ein grell-bunter Kranz ab: die hoch aktive Großhirnrinde. In einem Bereich, rechts unten auf dem Bild, war die Färbung deutlich blasser: Hier im Scheitellappen, schien die Nerventätigkeit deutlich gedrosselt zu sein. Newberg war begeistert, denn er begriff, dass er soeben Zeuge jener Vergeistigung geworden war, von dem die Meditierenden berichten: Der Scheitellappen ist nämlich genau jene Region im Hirn, in der alle Informationen über den Körper zusammenlaufen. Muskeln, Gelenke, Augen, Gleichgewichtsorgan und motorische Steuerzentren senden Signale, aus denen der Scheitellappen ein Bild des eigenen Körpers zusammensetzt. Wenn nun, so überlegte Newberg, der Meditierende die Aktivität dieses Hirnteils dämpft, dann verliert er damit den Kontakt zum eigenen Körper, so empfindet er sich nur noch als puren Geist. Wie von allem Irdischen losgelöst entschwebt dieser in Regionen, in denen das durch den Körper vermittelte Gesetz der Schwerkraft nicht mehr gilt. Andere aus der jungen Zunft der Neurotheologen wenden sich, wie Ramachandran, weniger dem Prozess der Entkörperlichung als vielmehr den damit verbundenen Visionen und mystischen Erfahrungen zu. Und deren Ursprung vermuten sie im Schläfenlappen. Schon in den siebziger Jahren war einigen Neurologen aufgefallen, dass Schläfenlappenepileptiker besonders anfällig für religiöse Gedanken zu sein schienen. Es handelt sich dabei zumeist nicht um Patienten, deren Glieder sich zusammenkrampfen, so dass sie mit Schaum vorm Mund zu Boden schlagen. Als hyperreligiös erwiesen sich vielmehr eher jene, deren Anfälle von unvermittelten Absencen, von eigenartigen Gefühlen, Panik, Verwirrung, mitunter auch von Halluzinationen begleitet sind. Bei diesen Patienten wird nicht das ganze Hirn von einem elektrischen Sturm heimgesucht. Bei ihnen steht nur ein kleines Areal in Flammen. Und - so zumindest glauben einige Neurologen - festgestellt zu haben, wenn der Patient sehr viel und eifernd von Gott und religiösen Ideen redet, dann liegt dieser Herd zumeist im Schläfenlappen. Systematische Untersuchungen zu dieser Frage gibt es bisher kaum. Deshalb müssen sich die Verfechter dieses Kozepts der "hyperreligiösen Schläffenlappenpersönlichkeit" auf Beschreibungen von Einzelfällen stützen, wie sie zahlreich durch die neurologische Literatur spuken: den Fall des sechsjährigen Jungen etwa, der aus Angst vor den Qualen der Hölle, krank wurde; denjenigen des Siebenjährigen, der siebenmal wöchentlich in der Kirche für die Seelen seiner Familie betete; oder den der Frau, die auf ihren Spaziergängen von Fabelwesen begleitet wurde.
Den Neurotheologen passen solche Beschreibungen wunderbar ins Konzept. Denn der Schläfenlappen scheint geradezu prädestiniert dazu, den Eingang zu anderen Welten zu öffnen: Hier wird nicht nur die Sprache verarbeitet, hier werden auch Gegenstände, Gesichter und Begriffe erkannt, hier wird der Welt gleichsam Bedeutung verliehen. Zugleich ist der Schläffenlappen untrennbar mit der Gefühlswelt verwoben. In den tieferen Regionen dieses Hirnlappens verbirgt sich eines der faszinierendsten Teile des Gehirns: nur ein schnittbohnenförmiger, C-förmiger Nervenstrang mit dem Namen limbisches System. An einem Ende dieser Hirnstruktur sitzt der Mandelkern ("Amygdala"). Hier laufen die Sinneseindrücke aus allein Teilen des Großhirns zusammen - Bilder, Töne und Gerüche, Temperatur-, Tast- und sonstige Körpersignale - und werden mit Gefühlen getränkt. Hier erst verwandelt sich das wertfreie Information in Wut, Ekel, Freude oder Glück.
Von der Amygdala ausgehend windet sich der zweite Teil des limbischen Systems einmal rund um das Zwischenhirn. Seiner Form wegen wurde er Hippokampus, Seepferdchen, getauft. Dieses unscheinbare Gebilde dient als Pforte zur Vergangenheit: Nur diejenigen Reize, die den Hippokampus passieren, werden im Gedächtnis abgespeichert. Der Rest fällt dem Vergessen anheim. Den Mechanismus religiöser Visionen jedoch glaubt Hinderk Emrich, Psychiater an der Medizinischen Hochschule Hannover, könne nur verstehen, wer die zweite, eng mit der ersten verknüpften Funktion dieser Hirnregion beachtet: Der Hippokampus urteilt nicht über erinnernswert oder -unwert, sondern auch über falsch oder richtig. "Der Hippokampus gleicht einer Schere im Kopf, erklärt Emrich, der sich seit 15 Jahren der Erforschung von Illusionen widmet. "Aber ohne diese Form der Zensur würden wir in der Welt nie zurechtkommen können."
Denn untentwegt wird das Gehirn von einer unvorstellbar großen Menge von Daten geflutet, vieles davon ist sinnlos, vieles widersprüchlich. Nun gilt es zu entscheiden: Was von all diesen Informationen ist wirklich bedeutsam? Welche Daten gehören zusammen, welche widersprechen sich? Aufgabe des Hippokampus ist es, aus der Fülle der möglichen Deutungen, die ihm das Hirn vorschlägt, die plausibelste auszuwählen. Dazu wird in dieser Hirnstruktur das Wahrgenommene mit dem Erwarteten verglichen; was allzu ungewöhnlich erscheint, wird schlicht verworfen. "Der Hippokampus arbeitet den dem Motto von C.Morgenstern: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Im Alltag ist diese Fähigkeit von höchster Wichtigkeit: Aus dem Krach, der in jeder Kneipe das Ohr bestürmt, lassen sich nur dann sinnvolle Sätze des Tischnachbarn herausfiltern, wenn ein Großteil aus Wortfetzen erahnt, unentwegt Hypothesen über das Gesagte ent- und blitzschnell wieder verworfen werden, bis schließlich die plausibelste aller erwogenen Varianten als die vermeintlich eindeutig Gehörte ins Bewusstsein dringt. Ohne die Zensur die Hippkampus würde der Mensch orientierungslos in ein sinnloses Meer von Daten trudeln. So wichtig jedoch der Plausibilitätsfaktor ist, so schränkt er doch die Weltsicht ein. Scheuklappen gleich lenkt er den Blick auf das als wesentlich Erkannte. Was rechts und links liegt, bleibt unbeachtet. Wenn der Filter zu streng filtert, dann erfährt man nur, was man ohnehin schon weiß. Deshalb fördere es die Kreativität, wenn es gelingt die Schere im Kopf zu überlisten. Dann können sich plötzlich ganz neue Bedeutungszusammenhänge ergeben. "Auch Erleuchtungen bestehen möglicherweise darin, dass die Selbstzensur im Hippokampus überrannt wird", erklärt Emrich. Der Halluzinierende sieht Emrich zufolge stets seine eigene Wirklichkeitshypothese: "Die eigene Phantasie wird ihm vom Hirn als Realität eingespielt". Immer wieder hat sich Emrich im Verlauf seiner Forschung auch mit der Wirkung von Drogen beschäftigt. Denn er vermutet, dass sie die Selbstzensur gnädig stimmen - eben deshalb förderten sie gelegentlich die Phantasie. "Diesen Zweck könnten auch rituelle Tänze haben oder das Fasten, wie es in vielen Religionen vorgeschrieben wird. "Muhammed Ali zum Beispiel hat sich vor großen Kämpfen durch Schlafentzug in einen psychotischen Ausnahmezustand versetzt. Das ermöglichte es ihm, winzige Nuancen in der Physiognomie des Gegners zu erkennen und so eine Art Hellsichtigkeit zu erzeugen. Bei Schläfenlappenepilektikern wiederum könnte der Hirnzensor als Folge der Anfälle Schaden genommen haben, so dass diese Patienten regelmäßig das Gefühl haben, von Erleuchtungen heimgesucht zu werden. Noch beruhen derartige Theorien weit gehend auf Spekulationen. Denn Tierversuche sagen wenig aus, wenn es um ein so urmenschliches Phänomen geht wie das der Religion. Das menschliche Gehirn jedoch ist den Menschen schwer zugänglich. Erst langsam gelingt ihnen mit Hilfe von Tomographen der Blick durch den Schädel in das arbeitende Gehirn. Zunächst stellen die Neurotheologen dabei die Frage nach dem Wie: Welcher neuronale Mechanismus ist verantwortlich für den Gottesglauben? Erst wenn das beantwortet ist, werden die Hirnforscher beginnen können, die noch weit rätselhaftere Frage nach dem Warum nachzugehen: Welcher offenbar tief verwurzelte Trieb bewegt den Menschen, die Welt wider allen Augenschein mit höheren Wesen zu beleben?
Bisher war diese Fragestellung den Ethnologen und Anthropologen vorbehalten. Seit langen schon grübeln sie über die verblüffenden Gemeinsamkeiten aller Glaubensrichtungen: alle Religionen kennen Wesen mit übersinnlichen Kräften oder Eigenschaften, sie alle erklären die Welt mit Hilfe von in Geschichtsform gefassten Mythen. Alle berichten sie von irgendeiner Form des Jenseits. Dabei wird fast immer zwischen irdischen Körper und einer von diesem unabhängigen Seele unterschieden. Stets gibt es festgelegte Rituale, sehr häufig gehen diese mit dem Versuch einher, durch Tanz, Musik, Meditation oder Drogen andere Bewußtseinszustände zu erlangen. Einige dieser Rituale lassen sich in erstaunlicher Form in fast allen Kulturen wiederfinden: So ist der Wissenschaft kaum eine Religion bekannt, die den Göttern nicht Geschenken in Form Opfergaben darbrächten. Und auch die Initiation, der Übergang der Kinder in die Welt der Erwachsenen, wird in allen Völkern und Stämmen rituell begangen. Schließlich ist den Religionen gemein, dass sie eine Gruppe zusammenschweissen: Ethische Normen, oft in Gestalt von Tabus, werden religiös legitimiert. Zudem dient der Glaube oft dazu, ein Volk vom anderen abzugrenzen.
Die Geburtsstunde des ersten Gottes, jener Moment mithin, da erstmals Menschen übersinnliche Eingebungen hatten, ist nur ungenau bekannt. Einige Forscher versuchten gar, die Wurzeln bis ins Tierreich zu verfolgen. So deuteten sie das devote Verhalten eines Hundes seines Herrchen gegenüber als Verehrung eines gottähnlichen Wesens. Plausibler klingt eine Beobachtung aus Südafrika: Dort blickt eine bestimmte Art von Pavianen, gleichgültig was ihre Aufmerksamkeit gerade gefangen hält, plötzlich zur Sonne auf, sobald diese den Horizont berührt. Ekstatisch bellen sie den Sonnenball an, bis er völlig verschwunden ist: Äußert sich in diesem Verhalten eine Art Ehrfurcht vor der übermächtigen Natur? So verblüffend das Verhalten sonnenanbetender Paviane auch sein mag, die meisten Forscher halten eine Deutung für völlig überzogen.
Stand vielleicht nicht die Vernunft, auf die sich der Mensch so viel einbildet, sondern vielmehr die Religion und damit das Irrationale am Anfang aller Kultur? War sie es, die den Startschuss zum Siegeszug des Homo Sapiens gab? Es ist nicht sicher, ob es jemals eine Antwort auf diese Fragen geben kann. Den fossile Schädel verraten nicht, was in ihnen vorging. Trotzdem gibt es Indizien, über die in der Zunft heftig gestritten wird. Vor allem geht es dabei um die Frage, ob erst der moderne Mensch begann, sich dem Übersinnlichen hinzugeben, oder ob schon sein Vetter, der Neandertaler, oder gar sein Vorfahr, der Homo erectus, Götter kannte. Besonders radikal sind die Thesen Dietrich Mania, der Ausgrabungen von Homo-Erectus-Funden leitet. Er ist überzeugt, 370000 Jahre alte Spuren rituellen Handeln gefunden zu haben. Allerdings steht Mania damit alleine auf weiter Flur. Erst in rund 300000 Jahren jüngeren Schichten mehren sich die Indizien dafür, dass nun Götter auf der Erde weilten: Spätestens vor 50000 Jahren begannen die modernen Menschen, vermutlich sogar Neandertaler, Verstorbene zu bestatten. Wer Tote beerdigt, so argumentieren Anthropologen, glaubt an ein Jenseits, zumindest, wenn er ihnen auch noch Gaben beigibt. So wurde vor 28000 Jahren im heutigen Russland ein Fürst, Priester oder Schamane zusammen mit zwei Kindern auf die Reise in die Unterwelt geschickt. Alle drei waren mit prächtigen Schnitzereien geschmückt. Wozu hätte sein Volk schätzungsweise 13000 Arbeitsstunden an diese Pracht verwenden sollen, wenn es nicht glaubte, dass er es in einer anderen Welt noch gebrauchen könnte? Noch eindringlichere Zeugnisse spirituell geprägten Lebens bietet die Felsmalerei. Vor rund 32000 Jahren schufen in der südfranzösischen Chauvet-Höhle Menschen Meisterwerke, die den Vergleich mit Picasso oder Rembrandt nicht scheuen müssen. die Anthropologen rätseln, wie es zu einem so unvermittelten Ausbruch künstlerischer Kreativität kommen konnte. Eine viel diskutierte Erklärung ist folgende: Es sind Bilder steinzeitlicher Schamanen, die von diesen in einer Art religiöser Trance an die Wand geworfen wurden.
Religion im Gehirn?
Neue Erklärungsansätze zum Glauben aus dem Bereich der Hirnforschung, sowie biologische und anthropologische Glaubensthesen. Ein paar Elektroden, einen Monitor, ein Strimmessgerät: Mehr benötigte Ramachandran nicht, um Gott auf die Schliche zu kommen. Den Weg wies ihm einer seiner Patienten, dessen Name er mit Paul angibt.
Paul war 32 Jahre alt, als er erstmals in Ramachandrans Labor an der University of California in San Diego auftauchte, und er hatte sein Leben Gott verschrieben. Er arbeitete als stellvertretender Leiter eines Heilsarmeebüros, sein auffälligstes Merkmal war das wuchtige Kreuz, das an einer Goldkette an seinem Hals hing.
Ohne jeden Anflug von Unsicherheit schritt er in Ramachandrans Büro und begann von seinen Erleuchtungen zu reden. Bald dämmerte es dem Neurologen, warum ihm Pauls Verhalten so vertraut vorkam: Selbstbewusst war dieser befremdliche Patient, arrogant und überheblich, für Humor fehlte ihm jeder Sinn, sein Interesse galt fast ausschließlich der Religion - genau so wird in den Neurologie-Lehrbüchern eine "Schläfenlappenpersönlichkeit" beschrieben. Tatsächlich stellte Ramachandran fest, dass Pauls Hirn genau hinter der Schläfe regelmäßig von elektrischen Stürmen heimgesucht wurde - Anfällen, die der Patient jedoch als Momente großer Erleuchtung erlebte. "Das erste Mal passierte es, da war ich acht" erzählte ihm Paul. Schon damals habe ihn ein helles Licht in seinen Bann gezogen. Wenige Jahre später folgten weitere epileptische Anfälle, die Pauls Leben grundlegend veränderten. "Alles lag kristallklar vor mir", berichtete er voller Eifer. "Es gab nicht den geringsten Zweifel". Verzückung, reine Anschauung des Göttlichen, nur Einssein mit dem Schöpfer - vergebens versuchte er, sein beglückendes Gefühl in Worte zu fassen: "Das können sie nicht verstehen", erklärte er schließlich "genauso gut könnte ich versuchen, einem Kind die Wonnen des Sex zu erklären".
Nun sind von religiösen Visionen Besessene keine Seltenheit. Manch einer erzählt von "göttlichem Licht", von "letzten Wahrheiten", von plötzlichen "Einblicken ins wahre Wesen des Kosmos". Ramachandran hätte Pauls großspurige Reden also als bloße Vernarrtheit abtun und ihm schlicht Antiepileptika verschreiben können.
Doch die Forscher-Neugier des Arztes war geweckt: Konnte ihm Paul helfen zu verstehen, was Menschen ans Übersinnliche glauben lässt? Warum, so fragte er sich, reagieren gerade Schläfenlappenepileptiker so stark auf religiöse Reize? Und warum betreffen ihre Visionen stets das Übersinnliche? Warum sehen sie nicht Schweine oder Esel?
Zwei Ursachen von Pauls Verzückung schienen Ramachandran denkbar: Entweder die Anfälle erzeugten einen allgemeinen Erregungszustand, den Paul als so überwältigend empfand, dass er ihn mystisch deutete. Oder aber die epileptischen Anfälle flackerten auf in einer Art "Gott-Modul" einem eigens für das Wahrnehmen des Übersinnlichen verdrahteten Nervenschaltkreis. Um zu testen, welche dieser Erklärungen richtig sei, begann Ramachandran seine Strommessungen: Er zeigte seinen Patienten Bilder, die bei den meisten Menschen emotionale Reaktionen auslösen - Bilder von zerfleischten Menschen oder Pin-up-Fotos hübscher Menschen. Doch die Leitfähigkeit von Pauls Haut - untrüglicher Indikator für emotionale Erregung - änderte sich wenig: Ganz offensichtlich war dieser Pastient nicht durch alles leicht in Erregung zu versetzen. Erst als der Arzt ihm Bilder des Gekreuzigten und andere religiöse Bilder zeigte, schlug das Messgerät plötzlich heftig aus. Zeigte sich hier die Wirkung des Gott-Moduls, das Ramachandran in den Schläfenlappen vermutet? "Haben wir jetzt eine Hotline zum Himmel?", grübelte er. Womöglich werde man irgendwann sogar auf Gene stoßen, denen die Evolution eigens die Funktion gegeben hat, Gott sehen zu können. Ramachandran weiß wohl, dass er sich mit solchen Spekulationen in der Fachwelt Feinde macht. Gott gilt den meisten als nicht sinnvolles Studienobjekt, selbst dann nicht, wenn es darum geht, ihn in Gestalt neuronaler Strukturen aufzuspüren. Doch Ramachandran kann enormes Renommee in die Wagschale werfen. "Newsweek" kürte ihn zu einem von 100 Leuten, "die im 21.Jahrhundert eine herausragende Rolle spielen werden."
"Bastelei" nennt er seine Forschungsstrategie, bei der meist mit simplen Mitteln seinen Patienten Geheimnisse zu entreißen versucht, die sich unter ihrer Schädeldecke verbergen. Er scheut dabei auch vor kühnen Theorien nicht zurück: Mutig spekuliert er über die Entstehung der Sprache, den Beginn der Kultur, das Wesen der Kunst - und das Rätsel der Religion.
Die Frage, warum der Mensch so anfällig für den Glauben an das Übersinnliche ist, hat schon viele Denker grübeln lassen. Wer wie um 1825 der französischen Philosophen Auguste Comte, gehofft hatte, dereinst werde die Vernunft allen religiösen Aberglauben besiegen, wurde eines Besseren belehrt. Triumphal setzte sich seither die Technik durch; der Glaube aber blieb. In fast allen Ländern der Welt blieben die erklärten Atheisten in der Minderzahl. In den USA bekennen sich in Umfragen sogar 90% zum Glauben an irgendeine Form höheren Wesens. Rund ein Drittel behauptet, Erlebnisse plötzlicher religiöser Erleuchtung oder Erweckung gehabt zu haben. Selbst in den Universitäten, den Horten wissenschaftlicher Vernunft, grassiert die Irrationalität: In Umfragen erklärten fast 40%, an einen Gott, der Gebete erhört, zu glauben; ebenso viele freuten sich auf ein ewiges Leben.
Selbst wo den Kirchen, wie in Deutschland, die Mitglieder weglaufen, bedeutet dies mitnichten eine Absage an alles Übersinnliche. Im Gegenteil: Immer neue Wogen esoterischer Heilsversprechen suchen das Land heim. Mal finden sich Rebirthing und Channeling Anhänger, dann wieder ist fernöstliche Meditation in. Um die Jahrtausendwende entdeckten die Deutschen plötzlich ihre Liebe zu Engeln. Gegenwärtig, so klagen die Sektenbeauftragten, haben Druiden und Hexen Konjunktur.
Bis heute unerklärt bleibt die Frage: Warum? Warum lässt sich der Abteilungsleiter Feierabend die Zukunft lesen, warum geht die Frauenbeauftragte zum Schwarzmondritual? Warum glaubt jeder dritte Deutsche an die Wideraufstehung, warum gar jeder zweite an Schutzengel? Es sei eben die Lieblingsbeschäftigung der Menschheit, so schrieb schon vor fast hundert Jahren der US-amerikanische Essayist Mencken, leidenschaftlich an das offenkundig Unwahre zu glauben. Logik, so stöhnt auch der Harvard-Biologe Wilson, fruchte angesichts religiöser Argumente eben nicht: "Sie gleicht einem stahlummantelten Geschoss, mit dem man auf Nebel schießt." Die Bereischaft zu religiösem Glauben sei wohl ein "unaustilgbarer Bestandteil der menschlichen Natur". Noch ist allerdings noch nicht einmal klar, wie "Religion" überhaupt zu definieren ist: Lässt wirklich der gleiche Trieb den Buddhisten meditieren und den Derwisch ekstatisch tanzen? Wie viel Glauben hat der Hopi-Indianer mit dem der Juden gemein? Sind Marienverehrung und der Heilige Krieg und Esoterikboom wirklich Ausdruck ein und desselben biologischen Phänomens?
Ramachandran hält das durchaus für möglich - und mit dieser Auffassung ist er nicht allein. Mit ihm hat sich ein kleine Gruppe von Forschern darangemacht, der eigenartigen Spiritualitäts-Sehnsucht des Menschen dort nachzuspüren, wo sie verborgen liegen müsse: in den knapp anderthalb Kilogramm grau-weißen Gewebes unter der Schädeldecke. Diese Einsicht ist an sich nicht neu: Schin William James, der bis heute von vielen verehrten Pionier der Religionspsychologie, nahm bereits wie selbstverständlich an, dass das Geheimnis der Religion im Hirn zu suchen sei. Dennoch mieden die Hirnforscher das Thema. Allzu unverrückbar schien ihnen vorgegeben, dass Wissenschaft und Religion zwei unvereinbare Welten sind. So feierten die Hirnforscher zwar Triumph um Triumph: Sie klärten auf, wie das Großhirn Bilder und Töne verarbeitet, sie spürten die Überlebenszentren im Stammhirn auf. Ja, selbst vor dem Rätsel, wie das Gefühl von Glück, Angst oder Scham entsteht, schreckten sie nicht zurück. Nur die Religion schien ihnen keiner Forschung wert. Das beginnt sich erst in den letzten Jahren zu ändern. Noch allerdings steht die neu ausgerufene Disziplin der Neurotheologie am Anfang. Zurückgreifen können die Forscher nur auf wenige Experimente, die nachweisen, dass sich menschlichen Körper etwas verändert, wenn er betet oder meditiert: Die Atmungsrate sinkt erheblich, der Sauerstoffverbrauch geht um 20 bis 30 Prozent zurück. Der Hautwiderstand nimmt deutlich zu, ein Zeichen für Entspannung. Gleichzeitig wird das Blut saurer. Auch im Gehirn sind Veränderungen nachweisbar: Etwa 50 Sekunden, nachdem eine Meditation begonnen hat, erscheinen sogenannte Alpha-Wellen im Elektroenzephalogramm - was sonst bei geöffneten Augen sehr ungewöhnlich ist. In einigen Fällen lassen sich, trotz offener Augen, Theta-Wellen messen, normalerweise ein Indiz dafür, dass der Proband schläft und Traumbilder ihn umgaukeln. Das allerdings beweist nicht mehr, als das sich der tranceartige Zustand des Meditierenden auch in der Aktivität der Nerven niederschlägt. Doch was bedeutet das? Was genau ist es, das den Geist glauben lässt, er entschwebt in andere Sphären? Einer, der diesen Fragen nachgeht ist der Radiologe Newberg an der University Pennsylvania. Er forderte Buddhisten zum Meditieren auf. Ehe jedoch ihr Geist mit dem Kosmos verschmolz, zogen sie noch rasch an einer Strippe. Damit öffnete sich ein Ventil, durch das eine schwach radioaktive Substanz in ihre Venen tröpfeln konnte. Mit Hilfe einer Technik namens SPECT konnte Newberg dann messen, an welchen Stellen im Hirn die Nervenzellen so aktiv arbeiten, dass sich dieser Stoff anreichert. Tatsächlich erkannte der Forscher schon bald ein charakteristisches Muster auf dem Tomogramm - und mehr noch: Es glich in verblüffender Weise jenem, das sich unter ähnlichen Umständen bei betenden Franziskanernonnen gezeigt hatte. Wie im Normalzustand, so zeichnete sich auch bei Newbergs Probanden auf dem Bildschirm ein grell-bunter Kranz ab: die hoch aktive Großhirnrinde. In einem Bereich, rechts unten auf dem Bild, war die Färbung deutlich blasser: Hier im Scheitellappen, schien die Nerventätigkeit deutlich gedrosselt zu sein. Newberg war begeistert, denn er begriff, dass er soeben Zeuge jener Vergeistigung geworden war, von dem die Meditierenden berichten: Der Scheitellappen ist nämlich genau jene Region im Hirn, in der alle Informationen über den Körper zusammenlaufen. Muskeln, Gelenke, Augen, Gleichgewichtsorgan und motorische Steuerzentren senden Signale, aus denen der Scheitellappen ein Bild des eigenen Körpers zusammensetzt. Wenn nun, so überlegte Newberg, der Meditierende die Aktivität dieses Hirnteils dämpft, dann verliert er damit den Kontakt zum eigenen Körper, so empfindet er sich nur noch als puren Geist. Wie von allem Irdischen losgelöst entschwebt dieser in Regionen, in denen das durch den Körper vermittelte Gesetz der Schwerkraft nicht mehr gilt. Andere aus der jungen Zunft der Neurotheologen wenden sich, wie Ramachandran, weniger dem Prozess der Entkörperlichung als vielmehr den damit verbundenen Visionen und mystischen Erfahrungen zu. Und deren Ursprung vermuten sie im Schläfenlappen. Schon in den siebziger Jahren war einigen Neurologen aufgefallen, dass Schläfenlappenepileptiker besonders anfällig für religiöse Gedanken zu sein schienen. Es handelt sich dabei zumeist nicht um Patienten, deren Glieder sich zusammenkrampfen, so dass sie mit Schaum vorm Mund zu Boden schlagen. Als hyperreligiös erwiesen sich vielmehr eher jene, deren Anfälle von unvermittelten Absencen, von eigenartigen Gefühlen, Panik, Verwirrung, mitunter auch von Halluzinationen begleitet sind. Bei diesen Patienten wird nicht das ganze Hirn von einem elektrischen Sturm heimgesucht. Bei ihnen steht nur ein kleines Areal in Flammen. Und - so zumindest glauben einige Neurologen - festgestellt zu haben, wenn der Patient sehr viel und eifernd von Gott und religiösen Ideen redet, dann liegt dieser Herd zumeist im Schläfenlappen. Systematische Untersuchungen zu dieser Frage gibt es bisher kaum. Deshalb müssen sich die Verfechter dieses Kozepts der "hyperreligiösen Schläffenlappenpersönlichkeit" auf Beschreibungen von Einzelfällen stützen, wie sie zahlreich durch die neurologische Literatur spuken: den Fall des sechsjährigen Jungen etwa, der aus Angst vor den Qualen der Hölle, krank wurde; denjenigen des Siebenjährigen, der siebenmal wöchentlich in der Kirche für die Seelen seiner Familie betete; oder den der Frau, die auf ihren Spaziergängen von Fabelwesen begleitet wurde.
Den Neurotheologen passen solche Beschreibungen wunderbar ins Konzept. Denn der Schläfenlappen scheint geradezu prädestiniert dazu, den Eingang zu anderen Welten zu öffnen: Hier wird nicht nur die Sprache verarbeitet, hier werden auch Gegenstände, Gesichter und Begriffe erkannt, hier wird der Welt gleichsam Bedeutung verliehen. Zugleich ist der Schläffenlappen untrennbar mit der Gefühlswelt verwoben. In den tieferen Regionen dieses Hirnlappens verbirgt sich eines der faszinierendsten Teile des Gehirns: nur ein schnittbohnenförmiger, C-förmiger Nervenstrang mit dem Namen limbisches System. An einem Ende dieser Hirnstruktur sitzt der Mandelkern ("Amygdala"). Hier laufen die Sinneseindrücke aus allein Teilen des Großhirns zusammen - Bilder, Töne und Gerüche, Temperatur-, Tast- und sonstige Körpersignale - und werden mit Gefühlen getränkt. Hier erst verwandelt sich das wertfreie Information in Wut, Ekel, Freude oder Glück.
Von der Amygdala ausgehend windet sich der zweite Teil des limbischen Systems einmal rund um das Zwischenhirn. Seiner Form wegen wurde er Hippokampus, Seepferdchen, getauft. Dieses unscheinbare Gebilde dient als Pforte zur Vergangenheit: Nur diejenigen Reize, die den Hippokampus passieren, werden im Gedächtnis abgespeichert. Der Rest fällt dem Vergessen anheim. Den Mechanismus religiöser Visionen jedoch glaubt Hinderk Emrich, Psychiater an der Medizinischen Hochschule Hannover, könne nur verstehen, wer die zweite, eng mit der ersten verknüpften Funktion dieser Hirnregion beachtet: Der Hippokampus urteilt nicht über erinnernswert oder -unwert, sondern auch über falsch oder richtig. "Der Hippokampus gleicht einer Schere im Kopf, erklärt Emrich, der sich seit 15 Jahren der Erforschung von Illusionen widmet. "Aber ohne diese Form der Zensur würden wir in der Welt nie zurechtkommen können."
Denn untentwegt wird das Gehirn von einer unvorstellbar großen Menge von Daten geflutet, vieles davon ist sinnlos, vieles widersprüchlich. Nun gilt es zu entscheiden: Was von all diesen Informationen ist wirklich bedeutsam? Welche Daten gehören zusammen, welche widersprechen sich? Aufgabe des Hippokampus ist es, aus der Fülle der möglichen Deutungen, die ihm das Hirn vorschlägt, die plausibelste auszuwählen. Dazu wird in dieser Hirnstruktur das Wahrgenommene mit dem Erwarteten verglichen; was allzu ungewöhnlich erscheint, wird schlicht verworfen. "Der Hippokampus arbeitet den dem Motto von C.Morgenstern: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Im Alltag ist diese Fähigkeit von höchster Wichtigkeit: Aus dem Krach, der in jeder Kneipe das Ohr bestürmt, lassen sich nur dann sinnvolle Sätze des Tischnachbarn herausfiltern, wenn ein Großteil aus Wortfetzen erahnt, unentwegt Hypothesen über das Gesagte ent- und blitzschnell wieder verworfen werden, bis schließlich die plausibelste aller erwogenen Varianten als die vermeintlich eindeutig Gehörte ins Bewusstsein dringt. Ohne die Zensur die Hippkampus würde der Mensch orientierungslos in ein sinnloses Meer von Daten trudeln. So wichtig jedoch der Plausibilitätsfaktor ist, so schränkt er doch die Weltsicht ein. Scheuklappen gleich lenkt er den Blick auf das als wesentlich Erkannte. Was rechts und links liegt, bleibt unbeachtet. Wenn der Filter zu streng filtert, dann erfährt man nur, was man ohnehin schon weiß. Deshalb fördere es die Kreativität, wenn es gelingt die Schere im Kopf zu überlisten. Dann können sich plötzlich ganz neue Bedeutungszusammenhänge ergeben. "Auch Erleuchtungen bestehen möglicherweise darin, dass die Selbstzensur im Hippokampus überrannt wird", erklärt Emrich. Der Halluzinierende sieht Emrich zufolge stets seine eigene Wirklichkeitshypothese: "Die eigene Phantasie wird ihm vom Hirn als Realität eingespielt". Immer wieder hat sich Emrich im Verlauf seiner Forschung auch mit der Wirkung von Drogen beschäftigt. Denn er vermutet, dass sie die Selbstzensur gnädig stimmen - eben deshalb förderten sie gelegentlich die Phantasie. "Diesen Zweck könnten auch rituelle Tänze haben oder das Fasten, wie es in vielen Religionen vorgeschrieben wird. "Muhammed Ali zum Beispiel hat sich vor großen Kämpfen durch Schlafentzug in einen psychotischen Ausnahmezustand versetzt. Das ermöglichte es ihm, winzige Nuancen in der Physiognomie des Gegners zu erkennen und so eine Art Hellsichtigkeit zu erzeugen. Bei Schläfenlappenepilektikern wiederum könnte der Hirnzensor als Folge der Anfälle Schaden genommen haben, so dass diese Patienten regelmäßig das Gefühl haben, von Erleuchtungen heimgesucht zu werden. Noch beruhen derartige Theorien weit gehend auf Spekulationen. Denn Tierversuche sagen wenig aus, wenn es um ein so urmenschliches Phänomen geht wie das der Religion. Das menschliche Gehirn jedoch ist den Menschen schwer zugänglich. Erst langsam gelingt ihnen mit Hilfe von Tomographen der Blick durch den Schädel in das arbeitende Gehirn. Zunächst stellen die Neurotheologen dabei die Frage nach dem Wie: Welcher neuronale Mechanismus ist verantwortlich für den Gottesglauben? Erst wenn das beantwortet ist, werden die Hirnforscher beginnen können, die noch weit rätselhaftere Frage nach dem Warum nachzugehen: Welcher offenbar tief verwurzelte Trieb bewegt den Menschen, die Welt wider allen Augenschein mit höheren Wesen zu beleben?
Bisher war diese Fragestellung den Ethnologen und Anthropologen vorbehalten. Seit langen schon grübeln sie über die verblüffenden Gemeinsamkeiten aller Glaubensrichtungen: alle Religionen kennen Wesen mit übersinnlichen Kräften oder Eigenschaften, sie alle erklären die Welt mit Hilfe von in Geschichtsform gefassten Mythen. Alle berichten sie von irgendeiner Form des Jenseits. Dabei wird fast immer zwischen irdischen Körper und einer von diesem unabhängigen Seele unterschieden. Stets gibt es festgelegte Rituale, sehr häufig gehen diese mit dem Versuch einher, durch Tanz, Musik, Meditation oder Drogen andere Bewußtseinszustände zu erlangen. Einige dieser Rituale lassen sich in erstaunlicher Form in fast allen Kulturen wiederfinden: So ist der Wissenschaft kaum eine Religion bekannt, die den Göttern nicht Geschenken in Form Opfergaben darbrächten. Und auch die Initiation, der Übergang der Kinder in die Welt der Erwachsenen, wird in allen Völkern und Stämmen rituell begangen. Schließlich ist den Religionen gemein, dass sie eine Gruppe zusammenschweissen: Ethische Normen, oft in Gestalt von Tabus, werden religiös legitimiert. Zudem dient der Glaube oft dazu, ein Volk vom anderen abzugrenzen.
Die Geburtsstunde des ersten Gottes, jener Moment mithin, da erstmals Menschen übersinnliche Eingebungen hatten, ist nur ungenau bekannt. Einige Forscher versuchten gar, die Wurzeln bis ins Tierreich zu verfolgen. So deuteten sie das devote Verhalten eines Hundes seines Herrchen gegenüber als Verehrung eines gottähnlichen Wesens. Plausibler klingt eine Beobachtung aus Südafrika: Dort blickt eine bestimmte Art von Pavianen, gleichgültig was ihre Aufmerksamkeit gerade gefangen hält, plötzlich zur Sonne auf, sobald diese den Horizont berührt. Ekstatisch bellen sie den Sonnenball an, bis er völlig verschwunden ist: Äußert sich in diesem Verhalten eine Art Ehrfurcht vor der übermächtigen Natur? So verblüffend das Verhalten sonnenanbetender Paviane auch sein mag, die meisten Forscher halten eine Deutung für völlig überzogen.
Stand vielleicht nicht die Vernunft, auf die sich der Mensch so viel einbildet, sondern vielmehr die Religion und damit das Irrationale am Anfang aller Kultur? War sie es, die den Startschuss zum Siegeszug des Homo Sapiens gab? Es ist nicht sicher, ob es jemals eine Antwort auf diese Fragen geben kann. Den fossile Schädel verraten nicht, was in ihnen vorging. Trotzdem gibt es Indizien, über die in der Zunft heftig gestritten wird. Vor allem geht es dabei um die Frage, ob erst der moderne Mensch begann, sich dem Übersinnlichen hinzugeben, oder ob schon sein Vetter, der Neandertaler, oder gar sein Vorfahr, der Homo erectus, Götter kannte. Besonders radikal sind die Thesen Dietrich Mania, der Ausgrabungen von Homo-Erectus-Funden leitet. Er ist überzeugt, 370000 Jahre alte Spuren rituellen Handeln gefunden zu haben. Allerdings steht Mania damit alleine auf weiter Flur. Erst in rund 300000 Jahren jüngeren Schichten mehren sich die Indizien dafür, dass nun Götter auf der Erde weilten: Spätestens vor 50000 Jahren begannen die modernen Menschen, vermutlich sogar Neandertaler, Verstorbene zu bestatten. Wer Tote beerdigt, so argumentieren Anthropologen, glaubt an ein Jenseits, zumindest, wenn er ihnen auch noch Gaben beigibt. So wurde vor 28000 Jahren im heutigen Russland ein Fürst, Priester oder Schamane zusammen mit zwei Kindern auf die Reise in die Unterwelt geschickt. Alle drei waren mit prächtigen Schnitzereien geschmückt. Wozu hätte sein Volk schätzungsweise 13000 Arbeitsstunden an diese Pracht verwenden sollen, wenn es nicht glaubte, dass er es in einer anderen Welt noch gebrauchen könnte? Noch eindringlichere Zeugnisse spirituell geprägten Lebens bietet die Felsmalerei. Vor rund 32000 Jahren schufen in der südfranzösischen Chauvet-Höhle Menschen Meisterwerke, die den Vergleich mit Picasso oder Rembrandt nicht scheuen müssen. die Anthropologen rätseln, wie es zu einem so unvermittelten Ausbruch künstlerischer Kreativität kommen konnte. Eine viel diskutierte Erklärung ist folgende: Es sind Bilder steinzeitlicher Schamanen, die von diesen in einer Art religiöser Trance an die Wand geworfen wurden.
Homo est Deus
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