Kommunikation

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    • Kommunikation

      Kommunikation

      Der Junge merkte es während des Unterrichts. Die Lehrerin hatte seinen Namen aufgerufen, was ihn notgedrungenermaßen dazu veranlasst hatte, Fensterplatz Fensterplatz sein zu lassen, um sich dem Unterrichtsgeschehen widmen zu können. Nur widmete sich das Unterrichtsgeschehen gerade ihm: die Lehrerin und seine Mitschüler schauten ihn erwartungsvoll an, während er verdutzt in die Klasse blickte. Um ihrer Aufmerksamkeit gerecht zu werden, beschloss er, etwas zu sagen. Doch als er dazu ansetzte, die Lehrerin höflich um das Wiederholen der Frage zu bitten, stellte er fest, dass er das Sprechen verlernt hatte. Er versuchte es, doch wusste er nicht mehr, wie man Worte sagte. Nachdem er den Mund ein paarmal auf und wieder zugeklappt hatte, nahm die Lehrerin jemand anderen dran.
      Jetzt saß der Junge ungläubig lächelnd da und fragte sich, wie er das denn wieder hinbekommen habe. Einfach das Sprechen zu verlernen. Er malte sich aus, was das für ein Leben für ihn bedeuten würde: nie wieder jemanden grüßen zu müssen, nie wieder etwas Dummes oder Unangebrachtes sagen zu müssen, nie wieder mit einer Banalität herausplatzen müssen, für die man sich später schämte. Er hatte schon lange den Verdacht gegen sich gehegt, nichts zu sagen zu haben. Es würde auch nicht auffallen, wenn er nie wieder sprach, und wenn ein Lehrer ihn aufforderte, würde der schon früh genug mitkriegen, dass keine Antwort zu erwarten war, und jemand anderen drannehmen.
      Mit Überlegungen dieser Art verbrachte der Junge den Rest der Stunde und auch den restlichen Schultag, und zu Hause heftete er für alle gut sichtbar einen Zettel an den Flurschrank, auf dem stand: Ich habe das Sprechen verlernt.
      Tage und Woche vergingen, ohne dass der Junge ein Wort sprach, und es amüsierte ihn, in welch geringem Maße sich sein Leben doch verändert hatte. Allerdings fühlte er sich in Anbetracht der Tatsache, dass ihm das Sprechen seinen Dienst versagt hatte, dazu verpflichtet, sein Gehör auszuprägen. Er fing an, Menschen bei alltäglichen Gesprächen zu „belauschen“. Jeden Fetzen Dialogs, der in der Luft hing, nahm er auf und begann bald damit, alle Stimmen, die den Weg in sein Ohr fanden, unter verschiedenen Gesichtspunkten zu analysieren und in sein selbst aufgestelltes „Schubladensystem des gesprochenen Wortes“, wie er es nannte, einzuordnen. Schnell hatte sich das Kategorisieren verselbständigt, so dass ihm beim Klang einer Stimme nur noch Dinge wie Tonhöhe, Sprechgeschwindigkeit, Häufigkeit der verschluckten Endungen, Betonungsfehler etcetera durch den Kopf schwirrten, und er gar nicht mehr wahrnahm, worum es in den belauschten Gesprächen ging.
      Dieses Sprachschubladendenken griff schließlich auch auf die Musik über, die dem Jungen sehr wichtig war. Als er sich vor lauter Kriteriumsgewirr nicht mehr auf die Musik konzentrieren konnte, fasste er den Entschluss, sich wieder auf das Erfassen von Gesprächsinhalten zu trainieren.
      Als er dann eines Tages während der Pause seinen Mitschülern lauschte und versuchte, sich auf das Gesagte zu konzentrieren, gelang ihm das: und er stellte fest, dass sie ja alle nur Belangloses erzählten. Niemand von ihnen hatte etwas zu sagen. „Das hätte ich auch noch hinbekommen“, dachte der Junge sich bei jener Bemerkung, „So einen Blödsinn wüsste ich auch noch zu erzählen, könnte ich sprechen“, dachte er sich bei dieser. Jetzt tat es ihm leid, dass er das Sprechen verlernt hatte. Den ganzen Tag hörte er den Schülern und Lehrern zu, wie sie Nichtigkeiten austauschten, leere Phrasen droschen, sich gegenseitig inhaltlose Floskeln an den Kopf warfen, und mit jeder sinnfreien Bemerkung wurde er neidischer. Was gäbe er dafür und wie gerne würde er. Der Junge machte sich Vorwurf über Vorwurf.
      Zu Hause angekommen, warf er sich aufs Bett, presste sein Gesicht ins Kissen und verwünschte sich, erst, nachdem er das Sprechen verlernt hatte, erkannt zu haben, worauf es dabei ankam: nämlich überhaupt nicht darauf, was man sagte, sondern darauf, dass man etwas sagte. Es hatte einem auch nicht drauf anzukommen, was der andere sagte, es ging darum, sich selbst reden zu hören. Dem Jungen sagte dieses Prinzip, das er nun endlich realisiert hatte, so sehr zu, dass er sein Gesicht nur noch tiefer ins Bettzeug steckte und heißere Tränen weinte.
      Schließlich wurde es ihm zuviel.
      Er schleuderte das Kissen beiseite, sprang vom Bett auf, öffnete das Fenster und versuchte zu schreien. Er wollte der Welt seinen Namen entgegenrufen. Er wollte ihn schmettern. Doch keinen einzigen Laut brachte er hervor. Der Junge mühte sich, versuchte es fester und fester, bis schließlich vor Anstrengung sein Kopf platzte. Das linke Ohr flog in hohem Bogen und mit einem neutralen Geräusch gegen das Panoramafenster des gegenüberliegenden Hauses, in dem die Nachbarstochter gerade Gesangsunterricht nahm.
      YO YO YO WHAT GOES
    • da kann ich Corva nur zustimmen... wow.


      das einzige was mich ein wenig stört sind die letzen zwei sätze...

      ich denke es würde wohl reichen nach diesen Sätzen:

      [...]Er wollte der Welt seinen Namen entgegenrufen. Er wollte ihn schmettern. Doch keinen einzigen Laut brachte er hervor.[...]


      aufzuhören.
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      Im Herzen der Menschheit existiert eine Krankheit... Ihr Symptom ist Hass, Ihr Symptom ist Zorn. Ihr Symptom ist Krieg. Diese Krankheit ist die menschliche Emotion.
    • Original von StyleAngel
      hmm, keine schlechte geschichte. der tiefere sinn ist gut rübergebracht, repekt!

      nur halt die letzten beiden sätze sind nicht allzu toll, sie verdrehen die ganze sache irgendwie ins ... ja wie soll ich sagen . . . ins groteske, so dass man es nur noch schwer ernst nehmen kann . . . aber ansonsten: topp


      Ich war auch erst von dem letzten teil abgeschreckt, aber gerade weil sie so grotesk sind verdeutlichen sie die situation viel mehr, und der nachbleibende effekt ist grösser.
      Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenen Grunde, sonder ganz allein weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann
    • ich find es nicht grotesk ;) eher ein wenig übertrieben und es passt irgendwie nicht dahin. und auch dieser gegensatz macht es nich passend...
      "Und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später ist es soweit: Making disco a threat again. Wow. Und zu 72% geschmacksicher erklärst du jedem, dass ultramarinblau bedeutender ist als aquamarinblau. Und alle glauben es dir. Vorausgesetzt: die Nasenscheidewände halten."
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